Eine göttliche Tragikomödie

Einst war der allmächtige Göttervater Jupiter mit allen anderen Göttern zur Hochzeit des Okeanos (Gottheit des Weltmeeres) mit Tellus (Gottheit der Erde) nach Äthiopien gereist. Nach einem üppigen Hochzeitsmahl ließ Okeanos ein schwarz-weiß kariertes Brett mit Figuren zum Zeitvertreib bringen, welches er von den Meernymphen erhalten hatte. Die Götter waren interessiert und nach einer kurzen Regelkunde setzten sich alle, um eine epische Schlacht auf dem Schachbrett zwischen Apoll und Merkur zu verfolgen.

Wenn man dem Gedicht Scacchia Ludus von Marcus Hieronymus Vida (1485-1566) glauben will, so war dies die Geburtsstunde des Schachspiels. Wie man noch sehen wird, wird diese Partie trotz der göttlichen Spieler wahrhaft eine Anfängerpartie mit einer Vielzahl katastrophaler Fehler (die „Fieberkurve“ von lichess auf dem Bild unten stellt einen möglichen Spielverlauf dar, dazu später mehr). Nichtsdestotrotz oder gerade deshalb ist das Gedicht aber lesenswert, da es die psychologischen Hochs und Tiefs, die Apoll und Merkur während der Partie erleben und erleiden, eindrucksvoll schildert und auch das Spiel selbst auf epische Weise darstellt.

Bevor ich nun zur Partie zurückkomme, soll hier noch ein wichtiger Hinweis folgen: Der folgende Text stellt eine stark verkürzte Nacherzählung des oben erwähnten Gedichts dar, die neben dem Inhalt möglichst die Stimmung und die Art der Darstellung wiedergeben will (wobei der lateinische Text wie eigentlich jedes Original natürlich deutlich gelungener ist). Da das Gedicht auch als Gattungsparodie des Epos gelesen werden kann, enthält es die typischen Motive eines Epos. Wie auch bei Homers Ilias oder Vergils Aeneis (auf letzteres Werk nimmt das Schachgedicht oft starken Bezug) sind die Schlachtszenen häufiger brutal geschildert, was auch hier zumindest ansatzweise wiedergegeben werden sollte. Wenn man solche Schilderungen nicht mag, sollte man den folgenden Text besser nicht lesen. Nun aber zur Partie. Weiterlesen