Verleumdung oder Nicht-Verleumdung, das ist hier die Frage – die Causa Magnus Carlsen vs. Hans Niemann II

Nachdem die indirekt formulierten Betrugsvorwürfe von Magnus Carlsen gegen Hans Moke Niemann die letzten zwei Monate hohe Wellen geschlagen haben, hat der Fall nun eine Dimension: Niemann dreht den Spieß um und verklagt Magnus Carlsen (und andere) wegen Verleumdung und Verschwörung auf mehrere 100.000.000 Dollar!

Den bisherigen Ereignissen ist auf dieser Seite bereits ein Eintrag gewidmet, deswegen hier nur das aus meiner Sicht Wichtigste bisher:

  • Magnus Carlsen hat Niemann Betrug vorgeworfen, dies aber als Meinung gekennzeichnet (Tweet vom 26.09.22 „I believe that Niemann has cheated more – and more recently – than he has publicly admitted“).
  • Niemann hat zugegeben, dass er zweimal in seinem Leben (im Alter von 12 und 16) gecheated habe.
  • chess.com hat mit einer eigenen Untersuchung vom 4. Oktober dargelegt, dass Niemann in über 100 Online-Partien bis August 2020 nachweisbar betrogen habe. In der Partie gegen Magnus und OTB (Over the board) allgemein gebe es zwar gewisse verdächtige Aspekte, aber keinen direkten Beweis für Cheating.
  • Auch die Schiedsrichter des Sinquefield-Cups sehen kein Anzeichen für Cheating in dem Turnier.
  • Die Fide hat am 29.09. eine Untersuchungskommission für den Fall eingerichtet.
  • Generell scheinen vereinfacht gesagt zwei gegensätzliche Positionen in der Diskussion gegenüberzustehen (natürlich gibt es auch Zwischentöne): „Die Indizien sind erdrückend, Hans Niemann ist ein Cheater“ vs. „Die vermeintlichen Indizien beweisen gar nichts, Hans Niemann ist einfach ein starker Spieler und Magnus Carlsen ein schlechter Verlierer“.

Wie ist vor diesem Hintergrund nun die Klage zu bewerten?

Hans Niemann geht damit in die Offensive und es scheint immer mehr für beide Parteien ein Alles-oder-Nichts zu werden – sollte Niemann vollumfänglich Recht erhalten, stünden Magnus Carlsen und die anderen Angeklagten vor dem wirtschaftlichen Ruin; sollte Niemann den Fall verlieren, stünde er damit vermutlich vor dem Scherbenhaufen seiner noch jungen Karriere.

Interessant ist der Aspekt, dass es in dem Prozess „nur“ um die Frage geht, ob Verleumdung und Verschwörung vorliegen. Auch bei einer Niemannschen Niederlage im Prozess, wäre damit noch längst nicht „bewiesen“, dass Niemann ein Betrüger ist – das Gericht könnte schließlich entscheiden, dass die Position von Magnus Carlsen durch die Meinungsfreiheit gedeckt ist, ohne dass das Gericht die Betrugsfrage entscheiden müsste.

Ein weiterer Aspekt ist der juristische Leitsatz „in dubio pro reo“, der den Angeklagten begünstigt. So schwer es also ist, Niemann Betrug juristisch wasserdicht nachzuweisen (sofern es ihn überhaupt gegeben hat), so schwer könnte es nun ebenso sein, Verleumdung und v.a. eine Verschwörung nachzuweisen (sofern es sie überhaupt gegeben hat).

Die 100.000.000 $ wirken aus europäischer Sicht wie eine Fantasiesumme. In den USA sind hohe Schadensersatzforderungen bekanntermaßen aber eher üblich, wobei ich mir nicht sicher bin, wie das Gericht die Summe in diesem konkreten Fall beurteilen wird. Psychologisch kann man die Forderung aber auch einfach als Setzen eines möglichst günstigen Ankers deuten.

Die Frage nach der Zuständigkeit des Gerichts in Missouri mag formaljuristisch zwar hochinteressant sein, inhaltlich in Bezug auf den Fall ist sie es für mich aber nicht.

Wie sieht nun die Anklage konkret aus?

Die Anklage ist auf Englisch öffentlich zugänglich, sodass hier jetzt nur die aus meiner Sicht wichtigsten bzw. interessantesten Aspekte vorgestellt werden sollen, die Übersetzung der paraphrasierten oder zitierten Passagen habe ich selbst möglichst textnah und nach bestem Wissen und Gewissen vorgenommen (das Problem ist, dass jede Übersetzung eine Interpretation ist), eckige Klammern sind eigene Anmerkungen. Ich werde mich vor allem auf Magnus Carlsen konzentrieren und Nakamura sowie die anderen Angeklagten eher am Rand behandeln, da der Konflikt im Kern ein Konflikt zwischen Carlsen und Niemann ist:

  • Absätze 1-18: Hier werden die bisherigen Ereignisse aus der Sicht von Niemann und seinen Anwälten vorgestellt. Interessant ist hier die Bewertung von Magnus Carlsen, dieser könne nicht mit Niederlagen umgehen, habe deshalb die Beherrschung verloren, sei rasend vor Wut, dass er als König des Schachs respektlos behandelt worden sei, sei ängstlich, dass seine Marke durch weitere Niederlagen gegen Niemann befleckt werden könnte, weshalb er auf boshafte und heimtückische Weise Rache mit der falschen Anklage geübt habe (Absatz 8). Diese Anklage von Carlsen sei korrupt, feige und verleumderisch (Absatz 9). Um das Feuer seiner Anklage weiter anzufachen habe er außerdem sein Medienimperium entfesselt. Infolgedessen hätten die Firmen chess.com und PlayMagnus Niemann von ihren Websites verbannt, Hikaru Nakamura und Danny Rensch von chess.com die falsche Anklage verbreitet (Absatz 14). Niemanns Karriere sei zerstört, sein Leben ruiniert (Absatz 15). Deshalb würde er die genannten Personen / Firmen wegen Verleumdung, schriftlicher Verleumdung, ungesetzlichem Gruppenboykott, unerlaubter Eingriffe in Vertrags- und Businesserwartungen sowie Verschwörung anklagen und auf nicht weniger als 100.000.000 $ verklagen (Absatz 17+18). Insgesamt liest sich der Text für mich partiell schon wie eine Anklageschrift Ciceros – ich bin gespannt, ob die mir doch recht pathetisch wirkende Täter-Opfer-Malerei (als wenn die personifizierte Unschuld gegen den Sauron des Schachs antritt) vor einem Gericht in den USA heute noch denselben Erfolg hat, wie vor 2000 Jahren im antiken Rom.
  • Absatz 19-27: Hier folgen die formale Benennung der Prozessbeteiligten sowie des Gerichts.
  • Absatz 28-171: Hier werden die „Fakten“ [die durch die Verwendung von Attributen aber doch teilweise recht subjektive Färbungen erhalten] zu den Ereignissen und den Beteiligten noch einmal im Detail präsentiert, wovon die meisten hier jetzt nicht wiederholt werden müssen. Niemanns Sieg über Carlsen wird als gewaltig / enorm / unglaublich charakterisiert, der Niemanns Karriere auf das nächste Level in Richtung des nächsten großen amerikanischen Schachspielers hätte bringen sollen. Die Angeklagten hingegen würden alles tun, um dies zu verhindern (Absatz 77-78) [warum auch immer…, ein Motiv wird in dem Absatz jedenfalls nicht genannt]. Niemann habe gegen Carlsen nicht gecheated (Absatz 101). Die Behauptungen von chess.com seien falsch und würden Niemann nicht nur als Cheater, sondern auch als Lügner dastehen lassen (Absatz 105 sowie 152-154). Carlsens Tweet vom 26. September „I believe that Niemann has cheated more – and more recently – than he has publicly admitted“ sei faktisch eine Anklage (Absatz 124) [dies könnte eine ganz entscheidende Frage werden: Ist dieser Satz eine bloße Meinungsäußerung oder eine faktische Anklage]. Die Aussage, dass chess.com sich nicht mit Magnus Carlsen abspreche, sei einfach unglaubwürdig (Absatz 156) [das kann aus meiner Sicht einfach kein juristisches Argument sein; wenn dies das einzige Argument bleibt, wird zumindest eine „Verschwörung“ nicht zu beweisen sein].
  • Absatz 172-202: Hier werden die Anklagepunkte noch einmal genauer erläutert. Für vier der fünf Anklagepunkte (Verleumdung, schriftliche Verleumdung, ungesetzlicher Gruppenboykott, unerlaubte Eingriffe in Vertrags- und Businesserwartungen sowie Verschwörung) werden mindestens 100.000.000 $ gefordert, für einen der Anklagepunkte ein bei Gericht zu bestimmender Wert. Anders als in Absatz 18, wo von „nur“ mindestens 100.000.000 $ geschrieben wird, liest sich das hier summierend, sodass anscheinend mindestens 400.000.000 $ gefordert werden.

Wie geht es weiter?

Die Angeklagten haben – soweit ich weiß – die Vorwürfe zurückgewiesen, halten sich wegen des laufenden Verfahrens aber bedeckt. Wie sich der Fall insgesamt weiterentwickelt, ist für mich vollkommen offen. Entscheidend scheinen mir folgende Fragen:

  • Was ergibt die Untersuchung der Fide, wird sie vor oder nach dem Gerichtsprozess veröffentlicht?
  • Wie ist die Jurisdiktion zu bewerten, wird ein Prozess zustande kommen?
  • Für den Fall, dass kein Betrug nachgewiesen werden kann bzw. dass Niemann nicht betrogen hat – werden die Äußerungen von Carlsen (und den anderen) vom Gericht als Meinungsäußerung oder tatsächlich als Verleumdung gewertet?
  • Für den Fall, dass das Gericht auf Meinungsäußerung entscheidet und gleichzeitig die Betrugsfrage ungeklärt offen lässt – was bedeutet das für die Schachkarriere und das Leben von Niemann?
  • Inwieweit werden Wahrscheinlichkeiten aus verschiedenen Wissenschaften bzgl. der Betrugsfrage als „Beweis“ akzeptiert (und auf welcher Datenbasis werden die Wahrscheinlichkeiten ermittelt)?

Sören Koop