Schach und der Ukraine-Krieg

In der Satzung des Vereins steht unter §3 „Der Verein verfolgt keine wirtschaftlichen oder politischen Ziele.“ Normalerweise wird dies so interpretiert, dass zu aktuellen politischen Themen keine Stellung bezogen wird (wobei man es nicht zwangsweise so interpretieren muss).

Wenn aber schon die Verwendung des Wortes „Krieg“ (statt „Spezialoperation“) ein politisches Statement ist und wenn der Präsident der größten Atommacht der Welt sich quasi in einem apokalyptischen Kampf über Sein oder Nicht-Sein mit „dem Westen“ wähnt (dieser Eindruck zwängt sich bei Lektüre der Ansprachen Putins vom 21.2., vom 24.2. und vom 16.3. diesen Jahres auf) und einen Krieg mit unabsehbaren Folgen in Europa vom Zaum bricht, dann ist dies nicht „normalerweise“, dann hat dies direkt oder indirekt Konsequenzen für praktisch alle Menschen in Europa (vielleicht sogar der Welt). Davon ist auch die Gens der Schachspieler (Fide-Motto „Gens una sumus„) nicht ausgeschlossen. Aus diesem Grund soll hier ein Überblick über die Stellungnahmen im Schach gegeben werden, der aber keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Abschließend soll noch eine eigene Positionierung erfolgen. Da dies eine Schachseite ist, wird der Konflikt hier hauptsächlich aus dieser Perspektive beleuchtet. Eine allgemeine und ausführliche historische Einordnung des Konflikts oder Analyse der Reden Putins soll dagegen nicht stattfinden.

Zunächst soll hier der mutige Friedensappell russischer Schachspieler – darunter u.a. Ian Nepomniachtchi, Alexandra Kosteniuk, Daniil Dubov und Peter Svidler – vom 3. März erwähnt werden, in dem es u.a. heißt: „Wir lehnen Militäraktionen auf dem Gebiet der Ukraine ab und fordern einen baldigen Waffenstillstand und eine friedliche Lösung des Konflikts durch Dialog und diplomatische Verhandlungen. […] Wir sind für den Frieden. Stoppt den Krieg!

Ebenfalls gegen den Krieg geäußert hat sich Alexander Grischuk am 7. März: „Ich war und bin in 99 % der internationalen Konflikte auf der Seite Russlands, aber dieses Mal kann ich das nicht tun. Meiner Meinung nach ist das, was wir tun, sowohl aus moralischer als auch aus praktischer Sicht sehr falsch.“ Mit Nikita Vitiugov hatte sich schon am 25. Februar relativ früh ein Spitzen-GM gegen den Krieg positioniert:[…] Man kann sich nicht auf dem Territorium eines anderen verteidigen. Russen und Ukrainer sind Brüder, keine Feinde. Stoppt den Krieg.

Selbst der eigentlich kremlnahe Fide-Präsident Arkady Dvorkovich gab kritische Töne von sich: „Die Fide hat ihre tiefe Besorgnis über die von Russland in der Ukraine gestartete Militäraktion ausgedrückt. Die Fide steht vereint gegen diesen Krieg und gegen alle Kriege und verurteilt den Gebrauch von militärischen Mitteln, um politische Probleme zu lösen.“ Gleichwohl ist eine Debatte darüber entbrannt, ob er Fide-Präsident bleiben kann.

Demgegenüber steht leider Sergey Karjakin, der sich in einem offenen Brief am 27. Februar nicht zu schade war, das Propagandanarrativ zu verbreiten, in der Ukraine würden Nazis regieren, die einen Völkermord begehen – und der dafür jetzt von der Fide mit einer sechsmonatigen Sperre belegt wurde: „Es ist ein Kampf um die Demilitarisierung und Denazifizierung der Ukraine und ihres Regimes, die die Sicherheit ganz Europas und ihres Landes in Gefahr gebracht hat […] Acht lange Jahre haben wir mit Hoffnung auf die Befreiung von zahllosen Bombenangriffen mit dem Verlust zahlloser Menschenleben, auf die Befreiung vom Genozid des immer noch agierenden Kiever Regimes gehofft. […] Ich versichere Ihnen, unserem Oberbefehlshaber, meine volle Unterstützung beim Schutz der Interessen Russlands, beim Schutz der Interessen unseres multinationalen russischen Volkes sowie bei der Eliminierung von Bedrohungen und bei der Schaffung von Frieden! […]

International steht Karjakin aber zum Glück ziemlich allein da. Eine Übersicht (auf Englisch) über die Aussagen internationaler Schachspieler gibt es bei motherjones.com. Weltmeister Magnus Carlsen hat sich bisher nicht geäußert, da er laut einem Sprecher „nichts sagen wolle, solange er keine sehr klare Idee über eine bestimmte Botschaft habe, die er senden wolle. Nur ein paar mitfühlende Kommentare zu geben sei nicht seine Art, wichtige Themen wie diese zu behandeln.“ (Quelle siehe Link oben). Ex-Weltmeister Garry Kasparov ist hingegen schon lange als Kritiker Putins bekannt, er sieht „Putins Krieg“ u.a. als eine „Terrorkampagne“ (Nachricht vom 12. März auf der englischsprachigen Homepage von Kasparov). Der ehemalige Kontrahent von Garry Kasparov, der russische Ex-Weltmeister Anatoly Karpov, steht dagegen auch in dieser Kontroverse in Opposition zu Kasparov, da er als Abgeordneter von Putins Partei „Einiges Russland“ in der Duma am 22. Februar (zwei Tage vor Beginn der Invasion) für die Anerkennung der „Volksrepubliken Donezk und Luhansk“ gestimmt hat, eine direkte Stellungnahme von ihm habe ich aber nicht gefunden.

Die Hauptkontroverse in der Schachwelt besteht nun darin, ob russische und weißrussische Schachspieler generell wegen des Krieges ausgeschlossen werden sollten. Lichess hat für sich trotz seiner „Solidarität mit den Ukrainern“ beschlossen, russische und weißrussische IP-Adressen nicht zu blocken oder zu bannen, da Schach „inklusiv“ sei, da eine Isolation nur zu einer „Echokammer“ führe und da die russische Regierung eben gerade versuche, die eigene Bevölkerung von anderen Ansichten abzuschirmen (und man dies nicht noch unterstüzten wolle).

Dies hat zu einem Aufruf an alle deutschen Vereine durch die Schachvereinigung Offenburg geführt, sich dem Aufruf des IOC anzuschließen, alle russischen und weißrussischen Mannschaften in internationalen Wettbewerben auszuschließen, und sich daher im Umkehrschluss aus der Lichess-Bundesliga zurückzuziehen, da dort russische und weißrussische Mannschaften eben nicht ausgeschlossen werden.

In der Schachbundesliga möchte man etwas differenzierter vorgehen: „Schweigen ist nicht akzeptabel […] Der Vorstand des Schachbundesliga e.V. empfiehlt allen Mitgliedsvereinen, bis auf Weiteres keine Spieler/-innen einzusetzen, die russischer oder belarussischer Nationalität sind und den gegen die Ukraine geführten Angriffskrieg nicht aktiv ablehnen.“

Aus meiner Sicht sollten bei der Abwägung der Kontroverse eines generellen Ausschlusses noch folgende Argumente berücksichtigt werden:

  • Für einen Ausschluss spräche, dass es ein starkes Symbol wäre (auch die Macht des Symbolischen sollte nicht unterschätzt werden).
  • Ggf. wäre es sogar mehr als nur ein Symbol, da eine breite Isolation Russland zum Umdenken bewegen könnte. Andererseits könnte es aber auch zu einer Wagenburgmentalität führen.
  • Außerdem könnte man denjenigen, die keine Position gegen Russland beziehen und die Kontakte nicht abbrechen, vorwerfen, dass sie damit Russland und den Krieg zumindest moralisch (wenn nicht sogar wirtschaftlich) unterstützen.
  • Dass man bei einer Isolation auch unschuldige Russen kollektiv mitbestrafen würde, kann man als einen Kollateralschaden sehen, den man angesichts des Krieges dann hinnehmen müsste. Im Vergleich zum Leid der ukrainischen Bevölkerung ist ein Ausschluss von Schachturnieren auch ein lächerlich geringer Kollateralschaden.
  • Gegen einen Ausschluss spräche aus meiner Sicht, dass die russische Bevölkerung mitnichten einheitlich für den Krieg ist, so wie es Putins Propaganda gerne suggerieren möchte; Putin ist nicht Russland. Es gibt auch Gegenstimmen (gerade unter russischen Schachspielern, siehe oben), die man dann bestrafen würde.
  • Auch ein Bestrafen der schweigenden Masse (nach dem Motto „Schweigen ist nicht akzeptabel“) halte ich für schwierig. Man muss sich vor Augen führen, dass es das Zeichen einer Diktatur ist, dass eine öffentliche Diskussion wie bei uns nicht stattfindet und dass man durch Protest sich und auch seine Familie gefährdet – so muss man Putins Rede vom 16.3., in welcher er sogar von „Säuberungen“ und „der fünften Kolonne“ spricht als unverhohlene Drohung verstehen (eine direkte Übernahme des Vokabulars von Stalin, das Erinnerungen an Stalins „Großen Terror“ weckt). Ich habe starke Zweifel daran, dass ich den Mut zum Protest hätte, wenn ich jetzt in Russland leben würde. Traurigerweise muss man aber auch zugeben, dass Schweigen leider indirekt einen Teil zum Erhalt einer Diktatur beiträgt.
  • Eine „Kollektivschuld“ gibt es nicht (die Diskussion mit diesem Begriff wurde in Bezug auf die NS-Verbrechen geführt, Details würden hier zu weit führen), Schuld muss immer individuell geprüft werden (so wie es bei der echten Entnazifizierung auch getan wurde, wobei die Urteile aber oft skandalös mild waren – das ist aber wiederum ein anderes Thema). Eine pauschale Gruppenhaftung ist hingegen eher ein Zeichen von Totalitarismus, den „wir“ ja gerade bekämpfen wollen. Im Krieg muss man aufpassen, dass man nicht zu dem wird, was man bekämpfen will.
  • Ein letztes Argument wäre noch, dass solch ein Kollektivausschluss Wasser auf die putinschen Propagandamühlen mit dem Narrativ des Russland-feindlichen Westens gießen würde und damit Putins Macht ungewollt sogar noch festigen könnte.

Zu welchem Fazit komme ich persönlich nun in dieser Kontroverse, welche Argumente überwiegen? Keine Ahnung. Die Schwierigkeit besteht darin, dass sich die Argumente nicht gegenseitig ausstechen, sondern gleichzeitig gelten; hier die passende Synthese aus These und Antithese zu finden, ist mir noch nicht gelungen. Ein Urteil in dieser Kontroverse überlasse ich daher dem Leser. Nur eine unausgegorene Idee in Bezug auf die lichess-Liga wäre, dass pro russischem oder weißrussischem Team ein bestimmter Betrag an die Opfer in der Ukraine gespendet wird, sodass russische oder weißrussische Spieler mit ihrer Teilnahme die Ukraine unterstützen würden – hierbei stellt sich allerdings die Frage, woher das Geld kommen soll, da lichess und die Liga eben nicht kommerziell sind.

Für richtig halte ich aber eine Sperre von Spielern (namentlich Karjakin, siehe oben), die sich aktiv für den Krieg aussprechen. Gegen diesen Ausschluss gibt es zwar die gewichtigen Argumente, dass der Sport unpolitisch sein soll und dass der Sport im Sinne der olympischen Idee für Verständigung und Frieden sorgen kann. Diese Argumente kann man aber damit entkräften, dass keine Sperre auch politisch ist, da man Personen oder Staaten dann eine Plattform bietet, um politische Botschaften zu verbreiten, die im Fall von Russland und Karjakin eben gerade kriegerisch sind (siehe oben: „Eliminierung von Bedrohungen und bei der Schaffung von Frieden“ – ein zynisches Verständnis von Frieden, wenn alle Gegner „eliminiert“ sind). Hinzu kommt, dass man ohne Sperren das sogenannte „Sportswashing“ ermöglicht – ein Paradebeispiel wären hierfür die Olympischen Spiele 1936 in Berlin. Bei diesen Fällen ist also jede Entscheidung politisch, auch wenn man das nicht will.

Keine Kontroverse kann ich schließlich in der Bewertung des Krieges sehen. Welche Fehler auch immer „vom Westen“ tatsächlich im Umgang mit Russland und in der Weltpolitik begangen wurden (da gibt es reichlich Anlass zu berechtigter Selbstkritik), so ist dies doch in keinster Weise ein Grund für diesen Krieg. Das Narrativ, dass der Westen in der Ukraine Nazis unterstütze, die einen Genozid an Russen verüben und Massenvernichtungswaffen zur Vernichtung Russlands anschaffen wollen, und dass Russland die Ukraine nun von diesen Nazis befreie und nur sich selbst sowie seine bedrohte Existenz verteidige, ist ein klassisches Beispiel von Täter-Opfer-Umkehr und ist allein schon durch den bisherigen Kriegsverlauf ad absurdum geführt.

Sören Koop